DAS NEUE HEMD

Fortsetzung

 

 

 

....Mittlerweile hatte sich jedoch eine kleine Traube von Menschen um uns herum gebildet und eine sehr gepflegte, geschmackvoll gekleidete Dame ohne Alter meldete sich zu Wort und sagte in Richtung des Hemdträgers:

„Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische, aber ehrlich gesagt, der Mann hat Recht. Ihr Hemd ist wirklich grottenhässlich und vor allem passt es nicht zum Rest Ihrer Kleidung.“

 

„Stimmt“ riefen einige der Anwesenden. Andere ereiferten sich und schimpften: „Unverschämtheit, lassen Sie den Mann in Ruhe.“

 

Währenddessen hatten sich ca.50 Leute um die Szenerie versammelt. Man diskutierte miteinander inwiefern es zulässig sei dem Mann sein Hemd madig zu machen.

Es ging hin und her und jemand sagte. „Es gibt auch Bauvorschriften. Da kann auch nicht jeder machen was er will. Mein Bauvorhaben wurde gerade abgelehnt mit der Begründung dass „bauliche Anlagen mit ihrer Umgebung so in Einklang zu bringen sind, dass sie das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild nicht verunstalten oder deren beabsichtigte Gestaltung nicht beeinträchtigen. Auf Kultur- und Naturdenkmale und auf erhaltenswerte Eigenarten der Umgebung ist Rücksicht zu nehmen.“

 

Nun ist der Mannheimer Wasserturm in meinen Augen durchaus ein Kultur- und Naturdenkmal zu dem das Hemd einfach nicht passte.

 

Die Situation drohte zu eskalieren. Ich musste beschwichtigen, ging dazwischen und rief: „Ruhig, ruhig, bitte beruhigen sie sich doch“.

„Ich schlage vor, wir stimmen einfach ab. Und wenn die Mehrheit meiner Meinung ist, legen wir zusammen und kaufen dem Herrn in der Boutique da vorne ein neues Hemd.“

Zwischenzeitlich war kein Durchkommen mehr. Der gesamte Platz war total überfüllt und von den Planken her drängten sich noch mehr Leute.

 

Ich stieg auf eine Bank, um mir Gehör zu verschaffen: “Also, lassen Sie uns doch einfach abstimmen. Wer ist dafür, dass der Herr hier ein neues Hemd anzieht?“, fragte ich in die immer größer werdende Menge.

 

Allerdings konnten einige den Mann gar nicht mehr sehen, weil sie viel zu weit entfernt von ihm standen. Er solle sich zeigen, war der allgemeine Tenor. „Darf ich Sie bitten sich neben mich auf die Bank zu stellen, damit Sie auch von Allen gut gesehen werden können“ bat ich den Mann vorsichtig, um ihn nicht zu verunsichern. Schließlich weiß ich ja, dass es Leute gibt, denen es unangenehm ist, sich vor einer Menschenmenge zu präsentieren.

Überraschenderweise sträubte er sich nicht. Im Gegenteil! Irgendwie schien er begriffen zu haben, dass niemand ihm etwas Böses wollte. Er stieg auf die Bank und so konnten sich die Menschen eine Meinung bilden und an der Abstimmung teilnehmen.

 

Einige wenige riefen nach der Polizei: „Das gibt es nicht, so was kann man doch nicht durchgehen lassen“. Diese Stimmen fanden allerdings kaum Resonanz.

Ja, es gab überhaupt keinen Zweifel. Die Abstimmung per Handzeichen ergab: Die ganz große Mehrheit wollte, dass der Mann ein neues Hemd bekommt.

Mittlerweile hatte sich der Besitzer der Boutique, der natürlich alles mitbekommen hatte, durch die Menge vor zu uns an die Bank heran gekämpft.

Für ihn schien das DIE Gelegenheit zu einer nie dagewesenen Marketingaktion für sein Geschäft zu sein. Er machte ein Foto mit seinem Smartphone von dem Mann, sendete es an seine Facebook- und WhatsApp-Gruppen und postete es auf YouTube. Ich fragte ihn nach dem Grund und er sagte, dass er Ausführungen des Hemdes, wie es der Mann trug, in seinem Sortiment führte. Neuerdings bügelfrei produziert. Seine Hoffnung war, dass sich das Foto im Internet schnell verbreitet und das Hemd des Mannes Kultstatus erreicht, was für ihn Umsatzsteigerung zur Folge haben würde. Dann übernahm er die Initiative, stieg hoch auf die Bank und rief enthusiastisch:

„Der Herr kann sich in meiner Boutique sofort ein neues Hemd seiner Wahl aussuchen. Kostenlos!“ Die Menge johlte ausgelassen.

Die gesamte Stimmung war nun komplett ins Positive umgeschlagen und nahm geradezu Volksfestcharakter an.

Gäste des Hotels "Maritim" hingen aus den Fenstern und verfolgten belustigt mit Interesse das Geschehen. „Eine gute Werbung für Mannheim“, dachte ich. "Sowas gibt es nicht in jeder Stadt". Passanten liefen vorbei, klatschten begeistert und irgendwer karrte Getränke heran.

Der Boutiquenbesitzer, der Herr mit dem Hemd und die gepflegte, gut gekleidete Dame ohne Alter, die sich anfangs eingemischt hatte und nun die Stilberatung für den Mann übernommen hatte, bahnten sich den Weg zur Boutique und wurden unter großem Beifall durchgelassen.

Dass die Polizei zwischenzeitlich vor Ort war und zaghaft über Megaphon aufforderte die „nicht angemeldete Demonstration sofort aufzulösen“ interessierte kaum jemanden.

Es wurde friedlich weiter gefeiert und die Polizei ließ den Dingen ihren Lauf. Pantomimekünstler trieben ihren Schabernack, eine Band baute ihr Equipment auf und die Gäste des „Maritim“, unter ihnen offenkundig einige Geschäftsleute, gesellten sich dazu. Der Boutiquenbesitzer tauschte fleißig Visitenkarten aus.

Aufgrund des Fotos, das er im Internet veröffentlicht hatte, hatte sich indessen ein Flashmob organisiert. So trafen unzählige Menschen ein, die sich das gleiche Hemd angezogen hatten wie der Mann trug, der nun ein neues bekommen sollte. Dabei fiel mir auf, dass das Hemd als solches gar nicht so hässlich war. Vielen Menschen stand das Hemd hervorragend, weil sie es geschmackvoll kombinierten.

 

Nach ungefähr einer Stunde ging die Tür der Boutique auf. Heraus traten der Boutiquenbesitzer gefolgt von dem Mann in einem neuen Hemd. Er präsentierte sich händchenhaltend mit seiner elegant gekleideten Stilberaterin stolz der Menge.

Lang gezogene „Oohhs“ und „Ahhs“ wie man es von Feuerwerken am Nachthimmel kennt, hallten über den Platz. Weder Helene Fischer noch Brad Pitt hätten auf dem roten Teppich die nun aufgekommene Begeisterung ausgelöst.

  

Der Mann mit dem Hemd war nicht wieder zu erkennen. Die unsägliche Kappe hatte er auch nicht mehr auf. Er sah richtig pfiffig aus.

Er hatte ein neues Hemd an. Es passte zu seiner übrigen Kleidung und war mit der Umgebung in Einklang. Ich ging zufrieden nach Hause.

 

Ich hatte nichts weiter vor.